Wie kann ich mich irgendwo anders verwurzeln, wenn mein Herz nicht mit auf die Reise geht. Nicole Borho
Am 24. Februar begann der Krieg in der Ukraine – ein Krieg mitten in Europa. Es trifft mich ins Herz, wenn ich sehe, was er mit den Menschen macht.
Gerade an diesen Tagen erinnere ich mich an die Kriegs-Erzählungen meiner Oma, in denen sie von ihrer Flucht erzählte. Meine Oma lebte damals in einem kleinen donauschwäbischen Dorf namens Karavukovo / Batschka im heutigen Serbien. Dabei spürte ich, wie sehr sie unter dem Verlust ihrer Heimat litt und dass ihr Herz schwer war. Dazu hatte ich das Gefühl, dass sie entwurzelt war und in Deutschland nie wirklich ankam.
Zwangsentwurzelung, Flucht und Verlust der Heimat – gut 80 Jahre später geschieht wieder ähnliches in der Ukraine.
Inhaltsverzeichnis
1. Zwangsentwurzelung und die Angst vor den Bomben
Menschen fliehen aus ihrer Heimat, um den Bomben zu entkommen. Überwiegend Frauen mit ihren Kindern, ihre Männer müssen sie zurücklassen, weil diese in den Krieg ziehen und ihr Land verteidigen. Eine letzte Umarmung, ein letzter Kuss und viele Tränen fließen, weil keiner weiß, ob es je ein Wiedersehen geben wird.
Sie marschieren über Stunden und Tage. Ihre wenigen Habseligkeiten tragen sie in kleinen Taschen bei sich. Wenig Gepäck zu haben ist in diesen Tagen überlebenswichtig, meint ein älterer Mann, der mit seiner Frau auf dem Weg nach Polen ist. Denn wenn es gefährlich wird, müssen sie schnell rennen können – einen großen Koffer zu haben sei dabei hinderlich.
Unter Jacken schauen Hunde- und Katzenaugen hervor. Ich glaube, es würde den Menschen ihr Herz zerbrechen, wenn sie ihre lieben Tiere zurücklassen müssten.
Die Bahnhöfe sind voller Menschen, die erschöpft – teilweise nach 90 Stunden auf den Beinen einen Stopp auf ihrer Weiterreise einlegen. Manche haben Glück und werden bereits von Bekannten, die ihnen Zuflucht geben, erwartet.
Ich bin mir sicher, keiner von ihnen verlässt freiwillig seine Heimat und lässt seine Familie und seine Wurzeln zurück. Ihnen ist klar, dass wenn die Lage es zulässt, sie wieder in ihre Heimat zurückkehren werden.
Ich glaube, die Folgen des Krieges werden noch Jahrzehnte und Generationen später spürbar sein. Auch wenn die Welt dort wieder aufgebaut ist, heilen die inneren Wunden nicht so leicht.
Auch der 2. Weltkrieg zeigt sich heute noch in Emotionen, im Denken und auf körperlicher Ebene. Sabine Bode befasste sich eingehend mit der Kriegsenkel-Thematik, nach der es sieben Generationen dauert, bis der Krieg seelisch und körperlich verdaut“ ist.
2. Flucht und Ankommen in Wien
Vor allem meine Oma erzählte oft und viel von der Zeit im Arbeitslager und von ihrer Flucht aus dem selbigen. Es war eben ihre Art, das Geschehen zu verarbeiten und mit ihrer Trauer und Verlust der Heimat umzugehen. Mein Opa hingegen trauerte eher im Stillen und für sich.
Als der 2. Weltkrieg ausbrach, wurde mein Opa eingezogen und meine Oma blieb zurück. Zwei Wochen zuvor heirateten sie und sollten sich erst sieben Jahre später wieder sehen.
Sechs Jahre später war der Krieg zu Ende und man entzog den Deutschstämmigen in der Batschka alle Rechte, jagte sie aus ihren Häusern und deportierte sie in Arbeitslagern. Dort erfuhr meine Oma Hunger und Elend. In einem Tagebuch hielt sie ihre Erlebnisse fest: „Schlimmer kann nur der Tod sein!“, schrieb sie. Was hatte sie noch zu verlieren?
Irgendwann gelang ihr mithilfe eines Schleppers die Flucht aus dem Lager. Sie erzählte oft davon, wie sie durch das Maisfeld rannte und hinter sich Schüsse hörte. Ihr Weg führte sie dann nach Wien zu ihrer Cousine, bei der sie Zuflucht fand.
3. Wiedersehen nach sieben Jahren
Durch einen Zufall – nein, eigentlich war es ein großes Wunder – fanden meine Großeltern den Weg wieder zueinander.
Seitdem mein Opa eingerückt war, bestand kein Kontakt mehr. Beide wussten nicht vom anderen, ob er noch am Leben war und auf welchem Fleck der Erde er nun lebte.
Mein Opa kam nach dem Krieg nach München, weil er dort Arbeit als Maler fand. Er kontaktierte das dortige Rote Kreuz, ob meine Oma auf der Suchliste stand. Leider ohne Erfolg – bislang.
Dann geschah ein Wunder, das so unvorstellbar ist, dass man es kaum glauben kann.
Es war Winter, meine Oma immer noch in Wien, half in der Innenstadt beim Schnee schippen. Irgendjemand machte ein Foto von ihr und genau dieses Bild erschien auf einem Plakat in München. Und natürlich erkannte mein Opa meine Oma! Daraufhin kontaktierte er das Rote Kreuz in München, das dann wiederum mit einer Vermisstenstelle in Wien Kontakt aufnahm. Im April traf meine Oma in München ein und im Januar 1948 kam meine Mutter auf die Welt.
4. Trauer über den Verlust der Heimat
Als Kind konnte ich nicht nachvollziehen, dass meine Oma so viel über den Krieg erzählte. Ich verstand nicht, warum sie es nicht schaffte, den Blick einfach nach vorne zu richtete. Sie war doch am Leben! Ich hatte nicht im Entferntesten eine Vorstellung davon, was der Krieg und der aufgezwungene Verlust der Heimat für ein Gefühl der Trauer nach sich ziehen kann.
Heute verstehe ich es und noch einmal mehr durch meine Ausbildung zur Trauerbegleiterin.
Es muss sich so ähnlich anfühlen, als ob einem Baum gewaltsam seine Wurzeln entrissen werden. Dann musst du dich auf eine Reise begeben, die du eigentlich gar nicht willst und dabei weißt du nicht einmal, wann und wo deine Reise enden wird. Du bist weg – dein Herz bleibt hier und wartet auf deine Rückkehr – wenn es sein muss, ein Leben lang.
5. Meine Idee eines stellvertretenden Trauerrituals
Wie kann ich mich irgendwo anders verwurzeln, wenn mein Herz nicht mit auf die Reise geht. (Dieses Zitat kam mir in den Sinn, als ich mich mit meiner Oma verband)
Ich glaube, dass meine Großeltern und vor allem meine Oma deshalb nie wirklich in Deutschland ankamen.
Ich fragte meine Oma oft danach, warum sie ihre frühere Heimat nicht besuchte. Sie gab mir auf meine Frage nie eine Antwort. Im Nachhinein weiß ich, dass ihr Herz zerbrochen wäre, wenn sie mit dem ganzen Schmerz konfrontiert worden wäre. Zu tief saß der Verlust ihrer Heimat.
Vielleicht verspüre ich deshalb den großen Wunsch, ihre Heimat zu besuchen und für sie dort etwas in Ordnung zu bringen, damit ihre Seele zur Ruhe kommen darf.
Meine Idee ist es, einen Baum aus ihrem damaligen Wohnort auszugraben und ihn in ihrer früheren Heimat wieder einzupflanzen. Es wäre für mich ein symbolisches Ritual, sie wieder in ihre Heimat zurückzubringen. Vielleicht direkt ans Ufer der Mosdonka, weil sie an diesem Fluss so gern spazieren ging.
So würden sich die Kreise schließen und ihr Herz könnte wieder dort sein, wo es hingehört – endlich nach mehr als 80 Jahren.
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