Manchmal beginnt ein neuer Weg genau dort, wo alles dunkel erscheint. So erging es auch Lina, deren Herz nach dem Tod ihres Vaters von einem langen, kalten Winter erfüllt war. Nichts schien Farbe zu haben, nichts fühlte sich lebendig an. Doch Trauer hat ihre eigenen Wege, uns dorthin zu führen, wo Heilung beginnt. In einer der tiefsten Nächte, als Lina glaubte, völlig verloren zu sein, öffnete sich eine Tür – nicht in der äußeren Welt, sondern in ihrer eigenen inneren Landschaft. Was wie ein Zufall wirkte, entpuppte sich als Einladung zu einer Reise, die ihr zeigen würde, dass Farben nicht nur gemalt, sondern gefühlt werden können. Eine Reise zurück zu sich selbst, geführt von Licht, Erinnerung und dem leisen Versprechen, dass Liebe bleibt.

 

1. Der Winter, der in Linas Herz einzog

 

Es war der kälteste Dezember seit Jahrzehnten, doch die Kälte, die Lina begleitete, wohnte nicht draußen. Sie saß tief in ihrer Brust, schwer wie gefrorener Schnee, der einfach nicht schmelzen wollte. Drei Monate war es her, seit ihr Vater gestorben war – ein stiller, sanfter Mann, der ihr in der Kindheit beigebracht hatte, dass Farben Geschichten erzählen können.

Lina war früher oft mit ihm im Winter spazieren gegangen. Schon als Kind hatte sie die langen, hellen Nachmittage im Schnee geliebt. Ihr Vater hatte immer gesagt:

„Wenn die Welt still wird, dann kann man die Farben im Herzen besser hören.“

Doch jetzt war alles nur noch grau. Kein Blau des Himmels, kein Rosa der Wintersonne, kein Gold der Sterne – nur ein Nebel, der sich um alles legte, das ihr früher wichtig war.

Ihre Freunde erzählten, man müsse „wieder unter Menschen gehen“. Ihre Mutter meinte, „Leben geht weiter“. Ihr Bruder sagte, „es war sein Zeitpunkt“.

Nur sie selbst wusste: Leben ging weiter, aber Trauer blieb.

In ihrem kleinen Fachwerkhaus am Dorfrand von Mühlenthal stapelten sich Kerzen, Teetassen und unerledigte Briefe. Lina funktionierte – aber sie lebte nicht.

Und so war die Nacht, in der alles begann, eine Nacht wie viele. Eine Nacht, in der Lina wach im Bett lag und spürte, dass sie irgendwo tief in ihrem Inneren verloren gegangen war.

 

2. Die geheimnisvolle Einladung

 

Am Morgen des dritten Adventssonntags fand Lina im Briefkasten einen Umschlag – cremefarben, leicht schimmernd, ohne Absender. Irritiert öffnete sie ihn noch auf der Türschwelle, während ihr Atem kleine Wolken in die Winterluft malte.

Drinnen lag eine Karte aus handgeschöpftem Papier, zart wie ein Hauch. Darauf stand in geschwungener Schrift:

„Wenn dein Herz bereit ist, Farben wieder zu sehen, folge dem Licht im Wald.
Heute um 18 Uhr.
Bring nur dich.“

Darunter war ein winziger goldener Stern gemalt – oder vielleicht geprägt; er funkelte jedenfalls, obwohl keine Sonne darauf fiel.

Lina runzelte die Stirn. Wer sollte ihr so etwas schicken? Und vor allem: Wieso fühlte sich die Karte warm an, obwohl sie eiskalt geworden war beim Herausnehmen aus dem Briefkasten?

Sie legte die Karte auf den Küchentisch. Vielleicht war es eine nette Idee ihrer Freundin Mara? Oder ein Weihnachtsgag aus dem Dorf?
Doch etwas in ihr – ein ganz leiser Funke – flüsterte:

„Geh hin. Du brauchst Licht.“

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Lina etwas, das nicht nur Trauer war: Neugier.
Es war winzig, fast zerbrechlich – aber es war da.

Sie beschloss zu gehen.

 

3. Das Licht im Wald

 

Der Wald von Mühlenthal war im Winter wunderschön – tief verschneit, still, beinahe verwunschen. Als Lina sich gegen Abend auf den Weg machte, knirschte der Schnee unter ihren Stiefeln und die Kälte biss in ihre Wangen. Über ihr funkelten die ersten Sterne.

Sie folgte dem Pfad, der vom Dorf hinauf zu einer kleinen Lichtung führte. Es war ein Ort, an dem sie als Kind oft gewesen war – mit ihrem Vater. Damals hatten sie im Sommer Blumen gepflückt und im Winter Sterne gezählt.

Doch heute wirkte der Wald anders. Etwas war wach.

Nach einigen Minuten sah sie es:
Ein warmes, goldenes Licht flackerte zwischen den Tannen. Kein elektrisches Licht – es war weicher, lebendiger. Es tanzte in der Luft, als würde es atmen.

Lina ging näher.

Mit jedem Schritt fühlte sie ihr Herz schneller schlagen.

Auf der Lichtung stand eine kleine Holzhütte, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es war fast unmöglich – Lina kannte den Wald wie ihre Westentasche. Aber die Hütte musste neu sein. Oder… vielleicht auch nicht.

Über der Tür hing eine Lampe – oder eher ein Stern aus Glas, in dessen Innerem eine Kerze brannte und warmes, goldenes Licht ausstrahlte.

Als Lina sich näherte, öffnete sich die Tür wie von selbst. Und dann trat eine Frau heraus.

 

4. Die Hüterin der Farben

 

Die Frau sah aus, als sei sie aus einer anderen Zeit – oder einem anderen Traum. Sie war weder jung noch alt; ihre Haare waren silbergrau, ihre Augen meeresblau. Sie trug eine Art Wollumhang, der im Licht des Glassterns schimmerte wie Schnee, der Farben eingefangen hatte.

„Willkommen, Lina“, sagte sie mit einer Stimme, die klang wie warmer Tee an einem kalten Tag.

„Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte Lina verwirrt.

Die Frau lächelte. „Ich kenne nicht dich – ich kenne deine Trauer. Und sie hat dich hierher geführt.“

Lina blieb stehen. Etwas in diesen Worten traf sie tief.

„Wer… sind Sie?“

„Mein Name ist Elin. Ich hüte diesen Ort – den Ort, an dem Farben sprechen. Dein Vater hat einst hier gemalt.“

Lina starrte sie an.
„Mein Vater? Das… das kann nicht sein. Wir waren früher oft im Wald, aber diese Hütte – die war nie hier!“

Elin legte sanft eine Hand auf Linas Schulter.
„Trau dich zu sehen, was du vergessen hast.“

Und plötzlich wurde Lina warm – nicht körperlich, sondern irgendwo tief im Innern.

„Komm hinein“, sagte Elin. „Es ist Zeit.“

 

5. Der Malraum aus Licht

 

Die Hütte war viel größer innen, als sie von außen hätte sein dürfen. Ein weicher Duft nach Holz, Kräutern und Aquarellfarben erfüllte den Raum. Kerzen brannten in Nischen, und an den Wänden hingen unzählige Bilder – niemand hätte sagen können, ob sie gemalt, geträumt oder aus Licht erschaffen waren.

Elin führte Lina zu einem Tisch, auf dem ein leeres Blatt lag – groß, fein, einladend. Daneben: Aquarellfarben, Pinsel, Wasser in einer Kristallschale.

„Ich kann nicht malen“, flüsterte Lina.
„Du sollst auch nicht malen. Du sollst fühlen“, antwortete Elin.

Sie setzte sich ihr gegenüber.
„Es gibt einen Weg, durch die Trauer zu wandern, ohne sie zu verlieren. Du malst nicht, um etwas zu erschaffen. Du malst, um dich selbst zu erinnern.“

Lina schluckte. Tränen brannten hinter ihren Augen.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann.“

„Dann ist es genau der richtige Moment.“

Ein Knistern erfüllte die Luft und Lina spürte plötzlich, wie ihre Hände warm wurden. Sie nahm einen Pinsel – fast ohne zu entscheiden – und tauchte ihn in die erste Farbe, die sie sah: ein tiefes Nachtblau.

Sie berührte das Papier.
Ein Strich.

Dann noch einer.

Das Blau floss wie Wasser über das Blatt, und etwas in ihr löste sich.

Sie malte – oder die Farbe malte durch sie.

Elin schwieg und beobachtete nur.

Bald kamen ein zartes Türkis, ein leises Violett, ein Hauch von Silber hinzu. Das Bild wuchs, lebte, atmete.

Und dann – ohne zu wissen, warum – malte Lina einen Stern.

Einen goldenen Stern.

Wie den auf der Einladung.

Wie den, den ihr Vater ihr früher immer an den Himmel „gemalt“ hatte, indem er mit dem Finger die Sternbilder nachzog.

Und plötzlich brach alles in ihr auf. Lina schluchzte.
Die Tränen tropften auf das Papier, aber das störte nicht – die Farben verbanden sich, als wären die Tränen selbst ein Teil des Bildes.

Elin stand auf, trat hinter sie und legte sanft die Hände auf Linas Schultern.

„Lass alles fließen. Auch das, was du nicht aussprechen kannst.“

 

6. Die Farben beginnen zu sprechen

 

Als Linas Tränen versiegten, sah sie das Bild erneut an. Sie wusste nicht, wie es entstanden war. Aber sie spürte, dass es etwas in ihr ausgedrückt hatte, das tief verborgen gewesen war.

„Warum der Stern?“, fragte Elin mit einer Stimme, die keine Antwort verlangte, sondern Raum gab.

Lina schloss die Augen. „Mein Vater… hat mir immer gesagt, dass jeder Mensch einen inneren Stern hat. Eine Art… Kompass, der leuchtet, wenn alles dunkel wird.“

„Und du hast deinen verloren?“

Lina nickte.

Elin setzte sich wieder. „Der Stern ist nicht verloren. Er ist nur verschüttet. Unter Trauer. Unter Schmerz. Aber er leuchtet noch.“

Sie deutete auf das Bild.
„Und du hast ihn heute wieder gesehen.“

Lina fühlte ein Zittern. Etwas in ihr wurde warm. Leise. Sehr vorsichtig.

„Wie kann Malen… so etwas bewirken?“, fragte sie rau.

„Weil Farben sprechen, wenn Worte schweigen“, sagte Elin.
„Trauer kann uns stumm machen. Aber wenn du malst, kann etwas in dir wieder klingen.“

Lina sah auf das Bild und plötzlich meinte sie, dass das Gold ein wenig heller schimmerte.

„Du bist bereit für deine zweite Farbe“, sagte Elin.

 

7. Die Reise der drei Farben

 

Elin erklärte Lina, dass ihre Trauer drei Farben hätte – und dass jede von ihnen eine Botschaft trug.

„Heute Nacht wirst du sie finden. Deine Aufgabe ist, ihnen zuzuhören.“

Lina malte weiter. Diesmal ohne Plan, ohne Absicht. Und tatsächlich:
Die Bilder, die entstanden, waren nicht schön im klassischen Sinn – aber sie waren wahr.

 

Die erste Farbe: Nachtblau – Die Tiefe der Trauer

 

Das Blau war schwer, still, tief. Es erinnerte sie daran, wie einsam sie sich fühlte.
Aber es hatte auch eine Sanftheit.
Es war nicht bedrohlich – eher wie eine Hand, die sagt:
„Du musst nicht stark sein.“

 

Die zweite Farbe: Nebelgrau – Die Verwirrung

 

Sie malte graue Linien, die sich kreuzten, überlagerten, zerfielen.
Es war das Chaos, das der Verlust hinterlassen hatte.
Das Nicht-wissen, wie es weitergeht.

 

Die dritte Farbe: Gold – Der Funke

 

Und dann malte sie Gold.
Ganz vorsichtig.
Ein Strich.
Ein Kreis.
Ein Stern.

Und das Gold sprach zu ihr:

„Du musst den Menschen, den du verloren hast, nicht loslassen – du musst lernen, ihn anders zu tragen.“

 

8. Die Erkenntnis

 

Als die Kerzen in der Hütte fast heruntergebrannt waren, legte Lina den Pinsel weg.
Vor ihr lagen drei Bilder – blau, grau, golden.
Und plötzlich verstand sie:

Trauer ist nicht etwas, das man hinter sich lassen muss.
Trauer ist ein Raum, in dem man wachsen kann.

Sie sah Elin an.

„Was soll ich jetzt tun?“

Elin lächelte.
„Weitergehen. Malen, wenn dein Herz sprechen will. Pausieren, wenn du Ruhe brauchst. Verbunden bleiben – mit dem, was war, und mit dem, was kommt.“

„Aber… wohin gehe ich?“

„Zu dir selbst.“

 

9. Die Rückkehr

 

Als Lina die Hütte verließ, lag ein weiches Schneegestöber über dem Wald. Es war spät – oder vielleicht früh. Die Zeit fühlte sich seltsam an.

Der goldene Stern über der Tür leuchtete noch einmal hell auf, und im gleichen Moment hörte Lina eine Stimme – nicht laut, eher wie ein warmes Echo in ihrem Inneren:

„Ich bin bei dir.“

Es war die Stimme ihres Vaters.

Nicht so, als wäre er wirklich dort – sondern als wäre ein Teil von ihm wieder in ihr lebendig geworden.

Lina ging den Weg zurück zum Dorf.
Ihre Schritte waren leicht.
Und in ihrem Herzen brannte ein kleines, goldenes Licht.

 

10. Weihnachten mit Farben

 

In den Tagen bis Weihnachten stellte sie die drei Bilder in ihr Wohnzimmer. Jeden Morgen setzte sie sich davor, mit einer Tasse Tee, und ließ die Farben zu ihr sprechen.

Der Schmerz war nicht weg.
Die Trauer auch nicht.

Aber etwas hatte sich verändert.
Sie fühlte wieder.

Am Abend des 24. Dezember holte sie ein neues Blatt Papier hervor.
Sie atmete tief ein.
Und sie begann zu malen.

Ohne Plan.
Ohne Ziel.
Einfach aus dem Herzen.

Als sie fertig war, sah sie das Bild lange an.

Es zeigte ein Mädchen im Schnee.
Über ihr leuchtete ein goldener Stern.
Und hinter ihr stand ein Mann – nicht als Figur, sondern als Licht.
Eine Präsenz.
Ein Gefühl von Nähe.

Lina lächelte zum ersten Mal seit Monaten.

„Danke“, flüsterte sie. „Für alles.“

Und im warmen Kerzenschein des Weihnachtsabends wusste sie:
Sie konnte weiterleben. Mit der Trauer. Und mit der Liebe. Beides durfte bleiben.

 

11. Epilog – Der neue Stern

 

Jedes Jahr zu Weihnachten hing Lina einen goldenen Stern ans Fenster.
Und jedes Jahr malte sie ein neues intuitives Bild.
Nicht immer über Trauer.
Manchmal über Neubeginn.
Manchmal über Mut.
Manchmal über Freude.

Sie begann sogar, kleine Malkurse zu geben – für Menschen, die ihre eigenen Farben verloren hatten.

Sie nannte sie:
„Der Farbenstern – Intuitives Malen für die Seele“

Und irgendwann, viele Jahre später, erzählte man sich im Dorf Mühlenthal eine Legende:

„Manchmal, in tiefen Winternächten, sieht man ein goldenes Licht im Wald.
Wer ihm folgt, findet einen Ort, an dem Farben die Seele heilen.“

Doch nur wenige wussten, dass dieser Ort nicht im Wald lag.
Sondern in ihnen selbst.

geschrieben von: Nicole Borho

Ein besonderes Weihnachtsgeschenk:

 

Schenke dir und deiner Freundin eine besondere Auszeit: intuitives Malen zu zweit. Nach Linas berührender Reise im Märchen lädt auch mein Kurs dich ein, deine eigenen Farben wiederzuentdecken – spielerisch, frei und ganz ohne Erwartungen. Gemeinsam taucht ihr ein in einen kreativen Raum, in dem Geschichten entstehen, Gefühle sichtbar werden und Verbundenheit wächst. Ein Geschenk, das nicht nur schön aussieht, sondern tief berührt: Zeit, Nähe und kreative Heilung.

 
 
Intuitives Malen
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