Manuela und ich trafen uns im Rahmen einer Trauerbegleitung. Manuela (Name geändert) erlaubte mir, ihre Geschichte zu erzählen. Es ist ihr ein Anliegen, anderen Frauen, die eine Fehlgeburt erlitten haben, Mut zu machen, sich mit ihrer Trauer auseinanderzusetzen. Denn vielen ist nicht bewusst, welche Tragweite eine nicht gesehene Trauer auf andere Familienmitglieder bzw. Kinder haben kann. Dies kann sich z.B. darin zeigen, dass Kinder Ängste entwickeln, deren Ursache nicht direkt erkennbar sind. 

 

 

1. Die Ausgangssituation 

 

Manuela kam mit einem Erschöpfungssyndrom zu mir. Der Alltag zwischen Familie, Arbeit und Kindererziehung strengte sie an. Außerdem sorgte sie sich um ihre große 5- jährige Tochter, die unter Verlustängsten litt. Dies zeigte sich vor allem am Abend, wenn das Mädchen wie aus dem Nichts anfing zu weinen. Manuelas Sohn war zu diesem Zeitpunkt 3 Jahre alt. Sie beschrieb das Verhältnis zu ihm als distanziert und kühl. Manuelas Mann war oft auf Geschäftsreise und konnte der Familie nur zeitweise unterstützend zur Seite stehen. Zu Beginn unserer Gespräche war noch nicht absehbar, dass der Aspekt der nicht gesehenen Trauer eine wichtige Rolle spielen würde. 

 

 

2. Manuelas Wunsch: Ein anderes Kind soll über den Verlust hinwegtrösten 

 

In unserem Gespräch stellte sich heraus, dass Manuela den Verlust ihres zweiten Kindes nicht verarbeitet hatte und sie im Verborgenen trauerte – noch Jahre später.

Manuela erzählte, dass sie in der 11. Schwangerschaftswoche ein Kind verloren hatte. Zu diesem Zeitpunkt war ihre Tochter 2 Jahre alt. Sie hatte es gespürt, dass etwas nicht stimmte und der Ultraschall bestätigte ihre Vermutung. Der Embryo hatte sich nicht mehr weiterentwickelt.

Während sie erzählte, konnte ich wahrnehmen, dass ihr Herz schwer und voller Schmerz war. Manuela hatte sichtbar Tränen in ihren Augen, ihr Blick war nach unten gerichtet und sie sprach leise. Ich hatte den Eindruck, dass es ihr schwerfiel, über ihren Verlust zu sprechen und dafür Worte zu finden. 

Manuela berichtete weiter, dass sie, nachdem sie das Kind verloren hatte, sich dafür entschied, trotz ihrer Traurigkeit einfach weiterzugehen, um sich nicht mit ihrer Trauer befassen zu müssen. Dabei hoffte sie, schnell wieder schwanger zu werden, um so leichter mit dem Verlust weiterleben zu können. Wie erleichtert sie war, als sie einige Monate später wieder ein Kind erwartete! Für sie wäre die Vorstellung kaum auszuhalten gewesen, wenn es nicht mehr geklappt hätte, beschrieb sie. Denn ihre Hoffnung war es, mit einer erneuten Schwangerschaft besser über den Verlust hinwegkommen zu können.

 

 

3. Kein Kind heilt alle Wunden: Die Lücke und die Trauer bleiben für immer 

 

Die Schwangerschaft verlief ohne Komplikationen und im Sommer brachte Manuela einen Sohn zur Welt.

Die Freude über den Jungen war groß, aber die Traurigkeit über den Verlust ihres zweiten Kindes blieb. Manuela berichtete, dass sie oft an ihr verlorenes Kind dachte. Dabei stellte sie sich vor, wie es ausgesehen haben könnte und wie es sich anfühlen würde, wenn statt ihres Sohnes dieses Kind hier wäre. Jedes Jahr, wenn der errechnete Geburtstermin sich jährte, war ihr Schmerz über den Verlust besonders groß.

Plötzlich brach es aus Manuela heraus und sie begann zu weinen. Unter Tränen und Schluchzen erzählte sie, dass es da diese Gedanken gibt, die aus ihrer Sicht nicht sein dürfen. „Ich möchte doch keine schlechte Mutter sein, die so etwas über ihr Kind denkt, ich liebe doch mein Kind. An Tagen, an denen ich besonders traurig bin, habe ich das Gefühl, am liebsten meinen Sohn gegen das andere Kind eintauschen zu wollen. Ich hasse mich dafür, so etwas überhaupt zu denken!“ -> Dazu auch mein Artikel: Darf ich nach einer Fehlgeburt mein Sternenkind betrauern?

 

4. Der Schmerz nährt Gedanken, die nicht sein dürfen

 

Es waren nur Gedanken! Gedanken, die durch ein Gefühl der Trauer entstanden sind und nichts damit zu tun haben, dass Manuela ein schlechter Mensch oder eine schlechte Mutter ist.

In Momenten, in denen dein Herz trauert, werden Gedanken vom Schmerz genährt. Das Herz einer Mutter weint, weil es sich wünscht, dass ihr verlorenes Kind wieder bei ihr ist. Der Verstand realisiert, dass dies nicht möglich ist, auf emotionaler Ebene bleiben Sehnsucht und Schmerz.

Ich hatte den Eindruck, dass es Manuela gut tat, diese Gedanken aussprechen zu dürfen, ohne dafür verurteilt zu werden. Sie atmete inzwischen ruhig und ihr Blick und ihr Gesicht entspannten sich.

Manuela stellte rückblickend fest, dass der Verlust sie stark belastete. Was eine nicht gesehene Trauer für Auswirkungen auf alle Beteiligten haben kann, das war ihr nicht bewusst. Sie musste sich eingestehen, wie schwer es ihr oft fiel, ihren beiden Kindern ihre volle Aufmerksamkeit und Liebe zu schenken, weil ihre Gedanken bei ihrem verlorenen Kind waren. Ihre Kinder hatten wohl unterbewusst ihre Trauer gespürt.

Kinder haben feine Antennen und nicht selten ein Gespür dafür, wenn in ihrer Umgebung bzw. Familie irgendetwas nicht geklärt ist. Ich konnte mir deshalb vorstellen, dass die nicht gesehene Trauer der Mutter das Familiensystem unterschwellig beeinflusste. Dies kann sich zum einen darin zeigen, dass die Tochter Ängste entwickelte und zum anderen die Mutter ihrem Sohn gegenüber distanziert war.

Ich hatte dazu die Idee, ein kleines Ritual mit Manuela durchzuführen, um dabei Unausgesprochenes sichtbar zu machen und dafür Worte zu finden.

 

 

 

5. Nicht gesehene Trauer sichtbar machen 

 

Mutter und Kind

Das Ritual sollte Manuela die Möglichkeit geben, ihrem verlorenen Kind direkt gegenüberzutreten und ihm dabei alles sagen zu können, was sie auf dem Herzen hatte. Wie ich dies schon oft bei Ritual-Arbeiten erlebte, kann dies sehr erleichternd für alle Beteiligten sein. 

Das Ritual beinhaltet eine imaginäre Begegnung mit den betreffenden Familienmitgliedern. Wir schrieben die Namen der beteiligten Personen auf je ein Blatt. Sobald du dich auf das Blatt mit dem entsprechenden Namen stelltest, tratst du imaginär mit der Person in Kontakt. Manuela fing mit dem Blatt „Manuela“ an, das dem Blatt „Mein liebes verlorenes Kind“ gegenüber lag. Ihre beiden anderen Kinder standen neben dem Kind, ihr Mann war rechts neben Manuela platziert.

 

 

6. Die nicht gesehene Trauer ausdrücken 

 

 

Endlich konnte sie aussprechen, was ihr schon lange auf dem Herzen lag. Sie konnte  ihrem Kind sagen, wie sehr sie es liebte und vermisste und dass sie sich wünschte, dass es bei ihr ist. Manuela liefen Tränen über ihre Wangen. Später berichtete sie von diesem besonderen Moment, in dem sie ihrem Kind imaginär gegenüber stand und ihm ihre Liebe ausdrücken durfte.

Danach stellte ich mich auf das Blatt, auf dem Mein liebes verlorenes Kind stand und fühlte mich ein: „Ich vermisse dich auch, meine liebe Mama, ich hätte dich gerne kennengelernt, aber es war mein Schicksal, zu gehen. Dort, wo ich bin, geht es mir gut, du musst dich nicht um mich sorgen. Auch wenn wir nicht mehr in den gleichen Welten leben, sind unsere Herzen für immer miteinander verbunden. Du bist meine Mama und ich liebe dich. Ich wünsche mir, dass du mich in den Arm nimmst. „

Manuela nahm ihr Kind, stellvertretend mich in ihre Arme und konnte dabei die Verbindung zu ihm spüren. Dann drehte sie sich zu ihren anderen Kindern um. In diesem Moment fiel ihr auf, dass sie ihre Kinder schon lange nicht mehr so klar und bewusst gesehen hatte. “Ich war lange mit meiner Trauer um euer Geschwisterchen beschäftigt, sodass ich euch nicht mehr richtig sehen konnte, ihr ward für mich ganz weit weg. Es tut mir leid, dass es so war. Jetzt sehe ich euch. Auch ihr seid meine Kinder und ich liebe euch.“

Als Erinnerung, mit ihrem verlorenen Kind für immer verbunden zu sein, durfte Manuela einen Schmeichelstein aus meiner Sammlung aussuchen. Wann immer die Traurigkeiten sie überkommen sollte, konnte sie den Stein in ihre Hände nehmen und sich dabei vorstellen, mit ihrem Kind verbunden zu sein.

 

 

7. Was sich veränderte, nachdem die nicht gesehene Trauer sichtbar wurde

 

Beim nächsten Termin drei Wochen später berichtete Manuela, was sich in dieser Zeit veränderte.

Unmittelbar nach dem Ritual konnte sie eine Erleichterung wahrnehmen, die sich weiter verstärkte. Die Schwere, die durch die nicht gesehene Trauer entstanden war, löste sich immer weiter auf. Sie sei insgesamt ruhiger und die Beziehung zu ihren Kindern veränderte sich positiv. Ihre Tochter komme abends besser in den Schlaf und die Beziehung zu ihrem Sohn sei jetzt offener und herzlicher. Die Trauer um das verlorene Kind sei kaum noch vorhanden, stattdessen spüre sie, wie die Verbindung von Tag zu Tag intensiver werde. Der Samen sei gelegt und Beziehungen dürfen wachsen und reifen. Auch Manuelas Mann stellte fest, dass sie ausgeglichener und ruhiger sei.

 

 

8. Kein Kind kann ein anderes ersetzen: Die Trauer bleibt 

 

Die Familie, in du hineingeboren wurdest, prägt und beeinflusst dich dahingehend, wie du dich selbst und die Welt wahrnimmst. Stelle dir vor, dich begleitet dabei ein Feld voller  Trauer. Die Liebe zwischen den Menschen fließt nicht, weil jeder mit sich selbst und seiner Trauer beschäftigt ist. Keiner sieht den anderen und eine nicht gesehene Trauer ist allgegenwärtig und prägt das Miteinander.

Kinder haben ein feines Gespür für ungeklärte Dinge und können je nach Sensibilität auf diese Situationen unterschiedlich reagieren. Dies kann sich dadurch zeigen, dass sie Verlustängste entwickeln, sich nicht gesehen fühlen oder nur schwer ihren Platz in der Familie finden.

Auch wenn es schmerzt, ein Kind zu verlieren, egal ob dies in der Frühschwangerschaft oder später passiert, kann es nicht die Aufgabe eines Kindes sein, ein anderes zu ersetzen. Die Lücke, die ein Kind hinterlässt, kann von niemand anderem geschlossen werden als durch dich selbst, durch deine persönliche Trauerverarbeitung. Wobei ein wirkliches Schließen nie möglich sein wird, es werden immer Narben sichtbar sein. Es kann bei der Trauerverarbeitung lediglich darum gehen, Wunden zu heilen und einen Umgang mit dem Verlust zu finden.

Mir geht es hierbei nicht darum, ungünstige Situationen, in die ein Kind hineingeboren wird, zu bewerten. Vielmehr darum, sich bewusst zu machen, dass ein Gefühlsfeld bzw. Grundgefühl, das in der Familie vorherrscht, Kinder prägt. Das Wissen darum ist meiner Meinung nach die Grundlage dafür, sensibler und verantwortungsbewusster damit umzugehen. 


 

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