Karinas Geschichte
Gab es einen Auslöser?
Nicole:
In meinen Gesprächen mit Betroffenen konnte ich erfahren, dass die Entscheidung für einen Kontaktabbruch zu den Eltern, fast nie aus dem Nichts kommt und schon gar nicht leichtfertig getroffen wird. Die Entscheidung entwickelt sich meist über Jahre hinweg und ist oft mit einer Vielzahl von Emotionen und Überlegungen verbunden, die von tiefen inneren Konflikten und langanhaltenden Spannungen begleitet werden. Irgendwann ist der Leidensdruck so groß, dass ihnen keine andere Wahl bleibt, als den Schritt des Kontaktabbruchs zu gehen. Karina, wie war es bei dir? Gab es einen bestimmten Auslöser?
Karina:
Es gab einen heftigen Streit zwischen mir und meinem Vater, weil er sich sehr abfällig über meine Familie äußerte, was ich nicht zulassen wollte. Rückblickend verstehe ich aber, dass dieses Ereignis nicht der alleinige Auslöser für den Kontaktabbruch zu meinen Eltern war. Vielmehr waren es die zahlreichen Erfahrungen und Verletzungen aus meiner Kindheit, die bis ins Erwachsenenalter nachwirkten und in diesem Streit gipfelten.
Nicole:
Viele Betroffene beschreiben den Kontaktabbruch zu den Eltern als eine Art Akt der Selbstbehauptung, der schmerzhaft und gleichzeitig mit langem Ringen verbunden ist. Jeder Fall ist zwar individuell, aber es gibt in den meisten Biografien der Betroffenen einen roten Faden, der bei allen ähnlich verläuft.
Manchmal liegen körperlicher, emotionaler oder sogar sexueller Missbrauch vor. In solchen Fällen sind der Schmerz und die Trauer oft überwältigend. Es ist ein langer kräftezehrender Prozess, sich von den Menschen zu lösen, die einem so viel Leid zugefügt haben, aber oft ist es der einzige Weg, um sich selbst zu schützen und zu heilen.
Aber auch Vernachlässigung oder Ablehnung seitens der Eltern sind triftige Gründe, die zum Kontaktabbruch führen können. Das Gefühl, nicht geliebt oder akzeptiert zu werden, kann eine tiefe emotionale Wunde hinterlassen. Es ist schwer, diese Wunden zu heilen, und manchmal ist der einzige Weg, vorwärtszukommen, sich von denjenigen zu distanzieren, die sie verursacht haben.
Nicht selten sind es auch unterschiedliche Lebensanschauungen oder Werte. Wenn die Grundwerte und Überzeugungen von Eltern und Kindern zu stark voneinander abweichen, kann dies zu unüberbrückbaren Konflikten führen. Es ist schwer, den Menschen nahe zubleiben, die so grundlegend anders denken und handeln.
Wie war es bei dir? Welche Gründe lagen bei dir vor?
Karina:
Erwachsenenalter
Nicole:
Ich habe trotz Widerständen meinen eigenen beruflichen Weg eingeschlagen und Wirtschaftsingeneurwesen studiert und später ein Aufbaustudium Personalmanagement absolviert, wofür ich immer wieder büßen musste. Mein Vater musste im Rentenalter die Apotheke aufgeben. Da ich seinem Wunsch nicht nachgekommen und in seine Fußstapfen getreten bin, bestrafte er mich mit Desinteresse.
Im Alter führten meine Eltern ihren eingeschlagenen Weg weiter, in dem nur ihre eigenen Bedürfnisse Platz fanden. Für mich und mein Leben, später auch für unsere drei Kinder, interessierten sie sich kaum, was mich besonders verletzte. Mehr als einen kurzen Besuch an den Geburtstagen war nicht drin.
Selbst als ich einige Wochen aufgrund einer Erkrankung ausfiel, genossen meine Eltern ihre Zeit in Südfrankreich und hielten es nicht für notwendig, meiner Familie beizustehen. Mein Mann war mit unseren drei Kindern ohne familiäre Unterstützung auf sich allein gestellt. Überhaupt fanden meine Eltern stets Ausreden, um nicht helfen zu müssen. Sei es wegen ihrer zahlreichen Ehrenamtstätigkeiten, plötzlich aufgekommenen Schwindelanfälle oder anderen Verpflichtungen, während wir uns damals als junge Eltern am Belastungslimit befanden. Natürlich war das sehr verletzend.
Als ich später versuchte, mit meinen Eltern darüber zu sprechen, wurde ich mit Ignoranz bestraft. Auch ein Brief, den ich aus Verzweiflung geschrieben hatte, um meine Verletzungen zu begründen, bleibt bis heute ohne Reaktion. Es gab sowieso nie eine Bereitschaft zur Klärung oder Entschuldigung für etwaige Fehler. Vor allem meinem Vater fiel es immer schwer, sich für etwas zu entschuldigen, genauer gesagt, war das noch nie der Fall.
Folgen des Kontaktabbruchs: Emotionale und psychische Auswirkungen
Der Kontaktabbruch zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern hat oft tiefgreifende emotionale und psychische Folgen. Diese Entscheidung, obwohl manchmal notwendig, kann eine Vielzahl von intensiven Gefühlen auslösen.
- Trauer und Verlust
- Der Verlust der Beziehung zu den Eltern kann eine tiefe Trauer auslösen. Diese Trauer ist nicht nur der Verlust einer realen Beziehung, sondern auch der Verlust der Hoffnung auf eine ideale Eltern-Kind-Beziehung, die nie existierte.
- Schuldgefühle und Selbstzweifel
- Viele Betroffene kämpfen mit starken Schuldgefühlen und Selbstzweifeln. Sie fragen sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen haben und ob sie nicht doch einen Weg hätten finden können, die Beziehung zu verbessern.
- Isolation und Einsamkeit
- Der Kontaktabbruch kann zu sozialer Isolation führen. Viele Betroffene fühlen sich alleingelassen, da das Thema oft tabuisiert wird und es ihnen schwerfällt, Unterstützung in ihrem sozialen Umfeld zu finden.
- Psychische Belastungen
- Die psychischen Belastungen können vielfältig sein. Betroffene leiden häufig unter Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Die ständige Auseinandersetzung mit den Gründen des Kontaktabbruchs und den daraus resultierenden Emotionen kann sehr belastend sein.
- Selbstfindung und Heilung
- Trotz der intensiven negativen Gefühle kann der Kontaktabbruch auch eine Chance zur Selbstfindung und Heilung bieten. Es ermöglicht den Betroffenen, sich auf ihre eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren und sich aus toxischen Beziehungen zu befreien. Der Weg zur Heilung ist oft lang und steinig, aber er bietet die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu führen.
Das Verständnis der emotionalen und psychischen Auswirkungen des Kontaktabbruchs ist entscheidend für die Unterstützung der Betroffenen. Ein offenes Gespräch über ihre Erfahrungen kann ihnen helfen, sich weniger isoliert zu fühlen und den ersten Schritt zur Heilung zu machen.
Im zweiten und dritten Teil, möchte ich mit Karina über die emotionalen Folgen und den Trauerprozess sprechen.