Der Kontaktabbruch zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern mag ungewöhnlich erscheinen und widerspricht einem unserer stärksten Bedürfnisse nach Verbundenheit. Wie ich durch meine Gespräche weiß, betrifft dieses Thema eine beträchtliche Zahl von Menschen. Dennoch fällt es Betroffenen oft schwer, darüber zu sprechen – sei es aus Scham oder aufgrund von Schuldgefühlen.

Weil kaum jemand über seine Erfahrungen berichtet, kann der Eindruck entstehen, dass sich Betroffene mit diesem Problem allein sehen. Diese Isolation verstärkt das Gefühl der Verlassenheit und kann tiefe emotionale Wunden hinterlassen, die schwer zu heilen sind. Betroffene kämpfen oft mit dem Gedanken, ob ihre Entscheidung richtig war, und fühlen sich gleichzeitig von der Gesellschaft missverstanden.

 

Betroffenen fällt es schwer, darüber zu sprechen

 

Mit Karinas Geschichte möchte ich dazu beitragen, dieses tabu behaftete Thema „Kontaktabbruch erwachsener Kinder zu ihren Eltern“, an die Oberfläche zu holen und darüber zu sprechen. Es soll den Betroffene, zeigen, dass sie mit diesem Thema nicht allein sind und gleichzeitig Möglichkeiten beschreiben, wie sie mit den aufkommenden Gefühlen zurechtzukommen zu können. Das Interview habe ich in die drei Teile gegliedert, um die Teile auf sich wirken zu lassen. 

Manchmal bleibt Kindern keine andere Wahl, als diesen Schritt zu gehen, um sich selbst vor Manipulation und Schuldgefühlen zu schützen. Dieser Schritt erfordert immense innere Stärke und bringt oft einen tiefen inneren Zwiespalt mit sich, der von intensiven Gefühlen der Trauer und Schuld begleitet wird. Die Entscheidung kann einen enormen emotionalen Tribut fordern und das Gefühl, sich selbst und die eigenen Bedürfnisse verraten zu haben, lange nachwirken.

Obwohl es für die Betroffenen wichtig und richtig ist, sich aus den unguten Verstrickungen zu lösen, bleibt dennoch ein Gefühl der Leere und Trauer zurück. Diese Gefühle entspringen dem tief verwurzelten Wunsch nach Verbundenheit und der schmerzhaften Erkenntnis, dass diese Verbundenheit nie erfüllt werden kann. Die emotionale Leere kann sich in Form von Depressionen oder einem permanenten Gefühl der Unvollständigkeit manifestieren, was den Heilungsprozess zusätzlich erschwert.

 

Karinas Geschichte 

 

Mit Karinas (der Name wurde geändert, um die Anonymität zu wahren) Interview möchte ich einen Einblick in eine individuelle Lebensgeschichte geben. Karina und ich haben uns in einem Online-Trauer-Forum kennengelernt. Nach einem Interviewaufruf zu diesem Thema hat sie sich bereit erklärt, ihre Geschichte zu erzählen. Danke dafür, dass du beiträgst, dass das Thema aus dem Schatten in den Fokus rücken darf und es anderen Betroffenen hilft, sich nicht mehr allein zu fühlen.

Karina ist 54, verheiratet und Mutter von drei Kindern im Alter von 20, 15 und 14 Jahren. Sie ist als Personalmanagerin in einem mittelständigen Industriebetrieb tätig. Karina beschreibt sich selbst als lebensfrohe Natur, deren Leidenschaft die Fotographie und Marathonlaufen ist. Zum Zeitpunkt des Interviews hatte lag der Kontaktabbruch zu ihren Eltern bereits acht Jahre zurück.


 

Gab es einen Auslöser?

 

Nicole:

In meinen Gesprächen mit Betroffenen konnte ich erfahren, dass die Entscheidung für einen Kontaktabbruch zu den Eltern, fast nie aus dem Nichts kommt und schon gar nicht leichtfertig getroffen wird. Die Entscheidung entwickelt sich meist über Jahre hinweg und ist oft mit einer Vielzahl von Emotionen und Überlegungen verbunden, die von tiefen inneren Konflikten und langanhaltenden Spannungen begleitet werden. Irgendwann ist der Leidensdruck so groß, dass ihnen keine andere Wahl bleibt, als den Schritt des Kontaktabbruchs zu gehen. Karina, wie war es bei dir? Gab es einen bestimmten Auslöser?

Karina:

Es gab einen heftigen Streit zwischen mir und meinem Vater, weil er sich sehr abfällig über meine Familie  äußerte, was ich nicht zulassen wollte. Rückblickend verstehe ich aber, dass dieses Ereignis nicht der alleinige Auslöser für den Kontaktabbruch zu meinen Eltern war. Vielmehr waren es die zahlreichen Erfahrungen und Verletzungen aus meiner Kindheit, die bis ins Erwachsenenalter nachwirkten und in diesem Streit gipfelten.


 

Gründe für den Kontaktabbruch

 

Nicole:

Viele Betroffene beschreiben den Kontaktabbruch zu den Eltern als eine Art Akt der Selbstbehauptung,  der schmerzhaft und gleichzeitig mit langem Ringen verbunden ist. Jeder Fall ist zwar individuell, aber es gibt in den meisten Biografien der Betroffenen einen roten Faden, der bei allen ähnlich verläuft.

Manchmal liegen körperlicher, emotionaler oder sogar sexueller Missbrauch vor. In solchen Fällen sind der Schmerz und die Trauer oft überwältigend. Es ist ein langer kräftezehrender Prozess, sich von den Menschen zu lösen, die einem so viel Leid zugefügt haben, aber oft ist es der einzige Weg, um sich selbst zu schützen und zu heilen.

Aber auch Vernachlässigung oder Ablehnung seitens der Eltern sind triftige Gründe, die zum Kontaktabbruch führen können. Das Gefühl, nicht geliebt oder akzeptiert zu werden, kann eine tiefe emotionale Wunde hinterlassen. Es ist schwer, diese Wunden zu heilen, und manchmal ist der einzige Weg, vorwärtszukommen, sich von denjenigen zu distanzieren, die sie verursacht haben.

Nicht selten sind es auch unterschiedliche Lebensanschauungen oder Werte. Wenn die Grundwerte und Überzeugungen von Eltern und Kindern zu stark voneinander abweichen, kann dies zu unüberbrückbaren Konflikten führen. Es ist schwer, den Menschen nahe zubleiben, die so grundlegend anders denken und handeln.

Wie war es bei dir? Welche Gründe lagen bei dir vor?

Karina:

In meiner Kindheit gab es körperlicher bzw. emotionaler Missbrauch dazu Vernachlässigung. Ich wuchs in einem familiären Umfeld auf, in dem Kinder keinen Platz hatten. Es gab wenig emotionale Wärme, und meinen Eltern fiel es schwer, empathisch mit uns umzugehen. Ich habe noch einen drei Jahre älteren Bruder. Mein Vater, der selbst ernannte Mittelpunkt der Familie, so wie ich es beschreibe würde, war als Apotheker stets auf den guten Ruf bedacht, dem sich die Familie unterordnen musste. Meine Mutter hatte eine labile Persönlichkeit und war nicht in der Lage, eine tragfähige Beziehung zu uns Kindern aufzubauen und uns Sicherheit zu vermitteln. Sie war stets mit sich selbst und ihren eigenen Problemen beschäftigt, daher waren wir oft auf uns allein gestellt.

Gab es Probleme, hielten meine Eltern nicht zu uns, sondern sorgten sich eher darum, dass das makellose Bild unserer Familie nach außen aufrechterhalten wurde. Mein Vater war beruflich sehr eingespannt und entlud abends oft seinen Frust in körperlicher Gewalt gegen uns Kinder. Meine Mutter stand bei den Prügelattacken daneben und war nicht imstande, einzugreifen. Später am Abend zeigten mein Bruder und ich uns gegenseitig unsere blauen Flecken. Wir schämten uns und fühlen fühlten uns schuldig, deshalb sprachen wir mit niemandem über unsere schlimmen Erfahrungen, auch um unsere Eltern zu schützen, wie ich heute weiß.


 

Kindheit  

 

Nicole:

Es tut mir sehr leid, dass du so schlimme Erfahrungen machen musstest und dass dir deine Eltern keine Geborgenheit geben konnten. Für ein Kind ist das besonders wichtig. Leider hast du als Kind keine Möglichkeit, dich aus belastenden Situationen zu befreien, da du deinen Eltern schutzlos ausgeliefert bist. Um zu überleben, hattest du keine andere Wahl, als dich anzupassen, was manchmal drastische Folgen haben kann.

Die Gründe, weshalb es Eltern nicht möglich ist, sich um das emotionale Wohl ihrer Kinder zu kümmern, sind vielfältig. Dazu gehören die Persönlichkeit der Eltern, überzogene Erwartungen oder eine schwere Krankheit.

Hast du eine Vermutung, welche Gründe es deinen Eltern nicht möglich machten, sich um dein Wohl zu kümmern?

 
Karina:

Wie ich heute weiß, wuchs ich in einem sogenannten narzisstischen Familiensystem auf, in dem Kindern keine Eigenständigkeit und eigene Bedürfnisse zugestanden wird. Meine Eltern hatten den Wunsch, mich und meinen Bruder nach ihren Vorstellungen zu formen und in eine Richtung zu drängen, die ihnen entsprach und dem makellosen Bild nach außen bestätigte. Meine Interessen wurden nur selten berücksichtigt. Wie ich vermute, wollten sie zum einen für sich Dinge über ihre Kinder nachholen, was ihnen als Kinder verwehrt wurde. So musste ich Musikinstrumente lernen, obwohl ich kein Interesse daran hatte. Meine eigentlichen Interessen, ich wollte gerne Handball spielen oder mich der Fotographie widmen, wurden nicht gewürdigt und als unnütz abgetan. Und zum anderen gab es den Wunsch, aus mir eine erfolgreiche Apothekerin machen zu wollen, was bestimmte Gründe hatte. 


 

Jugend 

 

Nicole:  

Karina, es klingt sehr schmerzhaft, wie deine Eltern dich behandelt haben. Es erfordert viel Mut, sich gegen solche Erwartungen zu stellen und seinen eigenen Weg zu gehen. Hat sich das im jungen Erwachsenenalter verändert? 

 
Karina: 

Mit zeitlichem Abstand betrachtet, erkenne ich, dass es nicht eine Entscheidung gegen meine Eltern war, sondern eine Entscheidung FÜR mich selbst und meinen eigenen Weg.

Es war tatsächlich so, dass meine Eltern selbst im Erwachsenenalter noch versuchten,  mein Leben und meine Lebensgestaltung zu beeinflussen, um ihren Vorstellungen zu entsprechen. Dies betraf vor allem meine Berufswahl. Die Wunschvorstellung meiner Eltern sah ein Pharmaziestudium für mich vor, um anschließend die elterliche Apotheke übernehmen zu können. Mein Bruder hatte nicht die schulischen Voraussetzungen, um ein Studium absolvieren zu können, daher wurde ich auserkoren, dem elterlichen Wunsch gerecht zu werden. Weil ich mich aber gegen diesen Weg entschieden habe, werteten sie mich oft ab, wohl aus einem Gefühl der Verletztheit heraus, verglichen mich mit anderen und ließen mich spüren, dass andere erfolgreicher und liebenswerter waren als ich, was mich natürlich sehr verletzte. In ihren Augen war ich nie so okay, so wie ich bin. 

Im Rahmen einer Therapie reifte in mir die Erkenntnis, dass es wichtig für mich ist, für mich selbst einzustehen und mich und meine Bedürfnisse zu schützen. Dies zwang mich letztendlich zu diesem drastischen Schritt für den Kontaktabbruch zu meinen Eltern. 


 

Erwachsenenalter 

 

Nicole:

Es kann für Kinder oft schwierig sein, ihren eigenen Lebensweg zu finden, wenn die Eltern ihre Interessen ignorieren und nur ihre eigenen Vorstellungen akzeptieren. Du sprichst davon, dass deine Eltern dir die berufliche Richtung vorschreiben wollten. Haben sie das geschafft? Wie hat sich dein Verhältnis zu deinen Eltern im Erwachsenenalter verändert?

 
Karina:

Ich habe trotz Widerständen meinen eigenen beruflichen Weg eingeschlagen und Wirtschaftsingeneurwesen studiert und später ein Aufbaustudium Personalmanagement absolviert, wofür ich immer wieder büßen musste. Mein Vater musste im Rentenalter die Apotheke aufgeben. Da ich seinem Wunsch nicht nachgekommen und in seine Fußstapfen getreten bin, bestrafte er mich mit Desinteresse.

Im Alter führten meine Eltern ihren eingeschlagenen Weg weiter, in dem nur ihre eigenen Bedürfnisse Platz fanden. Für mich und mein Leben, später auch für unsere drei Kinder, interessierten sie sich kaum, was mich besonders verletzte. Mehr als einen kurzen Besuch an den Geburtstagen war nicht drin.

Selbst als ich einige Wochen aufgrund einer Erkrankung ausfiel, genossen meine Eltern ihre Zeit in Südfrankreich und hielten es nicht für notwendig, meiner Familie beizustehen. Mein Mann war mit unseren drei Kindern ohne familiäre Unterstützung auf sich allein gestellt. Überhaupt fanden meine Eltern stets Ausreden, um nicht helfen zu müssen. Sei es wegen ihrer zahlreichen Ehrenamtstätigkeiten, plötzlich aufgekommenen Schwindelanfälle oder anderen Verpflichtungen, während wir uns damals als junge Eltern am Belastungslimit befanden. Natürlich war das sehr verletzend.

Als ich später versuchte, mit meinen Eltern darüber zu sprechen, wurde ich mit Ignoranz bestraft. Auch ein Brief, den ich aus Verzweiflung geschrieben hatte, um meine Verletzungen zu begründen, bleibt bis heute ohne Reaktion. Es gab sowieso nie eine Bereitschaft zur Klärung oder Entschuldigung für etwaige Fehler. Vor allem meinem Vater fiel es immer schwer, sich für etwas zu entschuldigen, genauer gesagt, war das noch nie der Fall.

 

 

Folgen des Kontaktabbruchs: Emotionale und psychische Auswirkungen 

 

Der Kontaktabbruch zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern hat oft tiefgreifende emotionale und psychische Folgen. Diese Entscheidung, obwohl manchmal notwendig, kann eine Vielzahl von intensiven Gefühlen auslösen.

  1. Trauer und Verlust
    • Der Verlust der Beziehung zu den Eltern kann eine tiefe Trauer auslösen. Diese Trauer ist nicht nur der Verlust einer realen Beziehung, sondern auch der Verlust der Hoffnung auf eine ideale Eltern-Kind-Beziehung, die nie existierte.
  2. Schuldgefühle und Selbstzweifel
    • Viele Betroffene kämpfen mit starken Schuldgefühlen und Selbstzweifeln. Sie fragen sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen haben und ob sie nicht doch einen Weg hätten finden können, die Beziehung zu verbessern.
  3. Isolation und Einsamkeit
    • Der Kontaktabbruch kann zu sozialer Isolation führen. Viele Betroffene fühlen sich alleingelassen, da das Thema oft tabuisiert wird und es ihnen schwerfällt, Unterstützung in ihrem sozialen Umfeld zu finden.
  4. Psychische Belastungen
    • Die psychischen Belastungen können vielfältig sein. Betroffene leiden häufig unter Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Die ständige Auseinandersetzung mit den Gründen des Kontaktabbruchs und den daraus resultierenden Emotionen kann sehr belastend sein.
  5. Selbstfindung und Heilung
    • Trotz der intensiven negativen Gefühle kann der Kontaktabbruch auch eine Chance zur Selbstfindung und Heilung bieten. Es ermöglicht den Betroffenen, sich auf ihre eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren und sich aus toxischen Beziehungen zu befreien. Der Weg zur Heilung ist oft lang und steinig, aber er bietet die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu führen.

Das Verständnis der emotionalen und psychischen Auswirkungen des Kontaktabbruchs ist entscheidend für die Unterstützung der Betroffenen. Ein offenes Gespräch über ihre Erfahrungen kann ihnen helfen, sich weniger isoliert zu fühlen und den ersten Schritt zur Heilung zu machen. 

Im zweiten und dritten Teil, möchte ich mit Karina über die emotionalen Folgen und den Trauerprozess sprechen. 

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